12. 08.06.15_klein

Mo, 08. - Fr, 12. Juni 2015

Devighat, Region Nuwakot / Kathmandu 

Der Abschied

„Through love all pain will turn to medicine.“ – rumi 

Der Himmel ist grau. Es ist kalt in Deutschland. Obwohl uns gesagt wurde, es sei 30 Grad, frieren wir. Es ist hell bis 23 Uhr. Das ist komisch… 

Doch nicht nur das ist komisch. Irgendwas ist anders. Normalerweise, haben wir mit jedem Menschen, den wir in den letzten Wochen getroffen haben über die Erdbeben gesprochen. Über die Folgen, die vielen Hilfsaktionen, die Verluste, über die Hoffnung, über den Zusammenhalt der Menschen. Das hat uns alle verbunden. Und hier…? Die Menschen reden nicht über die Erdbeben. Die Menschen reden nicht einmal über Nepal. Es gibt andere Themen. In der Zwischenzeit sind unsere Freunde zur Arbeit gegangen, haben Kinder bekommen, haben den Winter und den Frühling überdauert, haben sich einen neuen Flatscreen-Fernseher gekauft und haben ihre Steuern bezahlt. Allmählich wird uns bewusst, dass das die hiesige Alltäglichkeit zu sein scheint, die uns so absurd und fremd vorkommt, wie einst die Vorstellung, in eine neue, unbekannte Welt aufzubrechen, wie wir es vor 5 Monaten getan haben. 

Unsere letzten Tage in Nepal waren bezaubernd, voller schöner Abschiede und emotional verwirrend zugleich. Wir waren ein letztes Mal in Devighat und haben die Primary Setidevi Schule eingeweiht, die wir mit Hilfe eurer Spenden finanziert haben. Es war der perfekte Abschied. Zusammen haben wir nepalesische und englische Kinderlieder mit den Grundschülern gesungen. Es gab eine Zeremonie, bei der wir mit Tikka-Segnung und mit Blumenkränzen behangen wurden. Tee und Gebäck wurde gereicht auf dem Lehmboden der neuen Schule. Es wurde gelacht, sich gefreut und erzählt. Und ein Gruppenfoto mit strahlenden Kindern und Bauarbeitern, glücklichen Eltern und Lehrern und einem von Liebe überwältigten, reisenden Paar aus Deutschland, wurde zwischen dem Blitzlicht der Smartphones in unsere Herzen geschossen. Als wir mit den Motorbikes den Berg wieder hinabfuhren, liefen uns die Kinder noch winkend hinterher und der Fahrtwind blies unsere Freudentränen zu ihnen zurück. 

Dann hatte wir noch einen Tag in Kathmandu, um allen Freunden eine Abschiedsumarmung zu geben und die letzten Email-Adressen auszutauschen. Doch wie sollten wir das bloß machen, alle Menschen noch einmal treffen? Es waren so viele tolle Begegnungen und von einigen wussten wir noch nicht einmal, ob sie gerade in der Stadt sind. Doch alles lief… nicht nach Plan, aber nach Fügung. Nach und nach rannten wir auf der Straße quasi zufällig allen Personen in die Arme, die wir noch ein letztes Mal treffen wollten. „Du hier? Ich dachte ihr seid noch in den Bergen.“ – „Nein, wir sind seid gestern zurück.“ – „Wie schön, dass wir uns gerade jetzt noch treffen. Es ist unser letzter Tag in Nepal.“ Und das ist uns tatsächlich insgesamt 6x passiert an einem Tag! Wir bleiben in Kontakt. Und das ist nicht nur so ein Spruch, den man sagt, wenn man jemanden auf einer längeren Reise kennen gelernt hat. Das war mehr als eine Reise. Das war eine Lebensaufgabe. Und da unser Leben weitergeht, geht auch die Aufgabe weiter. Obwohl wir nun wieder in Deutschland sind, finanzieren wir parallel zwei Projekte in Nepal mit. Bei einem kümmert sich ein Freund darum, dass obdach- und mittellose Menschen, die immer noch auf den Straßen von 

Kathmandu leben, ein Dach über den Kopf bekommen. Unser Freund Naresh wird weiteres Wellblech für diese Menschen besorgen. Unser deutscher Freund Sören ist momentan weit in den Bergen unterwegs, um einem Dorf zu helfen, welches bisher von jeder Hilfe abgeschnitten war. Es bedurfte einen Tagesmarsch, um in dieses Dorf zu wandern, da die Straßen mit Trucks nicht passierbar sind. Dieses Dorf wird er auch mit Wellblech ausstatten. Ein Helikopter wird die Ladung in die Region bringen. Ursprünglich wollten wir mitfliegen, doch die Zeit rannte uns davon und nun finanzieren wir das Wellblech. Doch wir werden euch natürlich mit weiteren Berichten und Fotos informieren, wie die Aktionen laufen. Auf jeden Fall halten wir unsere guten Beziehungen in Nepal, um auch in Zukunft Aufbauhilfe leisten zu können. 

Doch jetzt startet zunächst einmal der Monsun. Die letzten zwei Tage hatte es in Kathmandu schon heftig zu regnen begonnen. Straßen werden nun bald unpassierbar, die Wege in die Bergdörfer werden bald überflutet sein. Daher ist es ein guter Zeitpunkt für uns, zunächst zurück nach Deutschland zu kommen… sammeln… neue Kräfte finden und dann schauen, wie es nach dem Monsun weiter geht. Am 12. Juni war es dann soweit. Wir sind in den Flieger gestiegen von Kathmandu nach Neu Delhi und von dort direkt nach Frankfurt. Am Flughafen in Kathmandu mussten wir dann leider feststellen, dass immer noch Hilfsgüter von einigen großen NGOs am Airport feststecken. Viele Zelte und Planen verstauben hier seit nun mehr als 6 Wochen auf den Rollbahnen, während unzählige Obdachlose in Kathmandu und der Umgebung immer noch keinen Schutz vor dem Regen haben. Wie kann das sein? Wer steckt hinter diesem logistischen Disaster? 

Nach 10 Stunden Flug sind wir nun hier in einer vollkommen anderen Welt. Wir sind erschöpft. Körperlich, sowie seelisch… Wieviel kann ein Mensch mehr tragen, zusätzlich zu den ganzen Hilfsgütern, dem Wellblech und den Erdsäcken, die wir getragen haben für Nepal. Können wir tragen, dass der Blick auf die zerstörten Häuser und die Armut für uns zur Normalität geworden sind, dass barfuß laufende Kinder in dreckigen Lumpen und zahnlose Alte uns zum Namaste anlächelten und uns Dhal Bath reichten, zur Normalität geworden sind? Dass Schlafen unter freiem Himmel, dass Laufen auf einer wackeligen Erde, dass Nichtwissen was morgen passiert, dass tägliche neue Abenteuer, dass die Fahrten auf der Ladung der Trucks in die Berge, entlang der Schluchten unsere Normalität, zu unserem Alltag geworden sind? Können wir tragen, dass all die Anstrengungen, all die Erkenntnisse, all die Wünsche, allen helfen und gerecht werden zu wollen, um doch am Ende feststellen zu müssen, dass wir auch nur Menschen sind mit Bedürfnissen? Können wir tragen, dass unsere Herzen auf die Probe gestellt worden sind, dass wir unsere Körper und unsere Seelen ausgepowert haben, bis sich die Schwielen an unseren Händen und die Haut von unserem Rücken gepellt hat und bis wir unsere eigenen, dunkelsten Bergschluchten durchwandert haben? Können wir tragen, dass wir unsere eigenen Erdbeben der Seele selbst hervorgerufen haben? Können wir tragen, dass wir nach Ruhe geschrien haben, uns selbst aber in dem Krach der sich windenden Erde nicht gehört haben? Wird uns das erfüllen oder leer werden lassen? Oder beides zugleich…? Es hat uns erfüllt und geleert und gelehrt… und am Ende ist es, wie am Anfang… alles gut! 

Und wir haben gesagt, wir wollen nach Hause. Wir lieben Nepal, wir wollen noch so viel mehr tun. Wir lieben die Menschen und dieses wunderschöne Land. Doch wir müssen nach Hause… Doch was ist zu Hause? In Nepal haben wir uns zu Hause gefühlt. Ist es jetzt der Ort, an dem der Himmel grau ist, die Menschen in der Zwischenzeit zur Arbeit gegangen sind, Kinder bekommen haben, den Winter und den Frühling überdauert haben, sich einen neuen Flatscreen-Fernseher gekauft haben und ihre Steuern bezahlt haben? Ist es Deutschland, wo die Straßen so neu und glatt sind, wo die Menschen in so großen, heilen 

Häusern wohnen, wo alles so sauber und hygienisch blitzblank gereinigt ist, mit dem Putzlappen der spießbürgerlichen Wohlstandsgesellschaft? Oder ist zu Hause vielleicht gar kein physischer Ort…? Ist es viel eher die Fähigkeit, sich fallen zu lassen, zurück in das Vertrauen, aus welchem wir geboren wurden und welches uns die Kraft zum Atmen gibt? Welches uns immer angetrieben hat, Menschen zu helfen, Menschen zu begegnen, Menschenseelen zu erkennen, selbst Mensch zu sein und uns selbst zu erkennen? Zurück nach Hause, in das Vertrauen, dass wir Wesen der Liebe sind und des Lichts! 

Wir sind nicht hier, um uns von Mutter Natur zerstören zu lassen, um uns von Erdbeben verschütten zu lassen. Wir sind hier, damit uns Mutter Natur wach rüttelt und neu erschafft, damit wir wieder zurück zur Liebe finden, damit wir zurück in unsere Menschlichkeit finden. Damit wir nicht neidisch über unseren Gartenzaun schauen, zum Nachbarn und uns fragen, wie der sich denn diesen neuen Flatscreen-Fernseher leisten konnte. Wir sind hier, damit wir uns gemeinsam stützen, helfen, bereichern und uns zusammen an einer wunderschönen Erde erfreuen können. Denn es ist alles vergänglich. Der Gartenzaun und der Flatscreen-Fernseher könnten morgen von einem Beben oder einer Bombe des neidischen Nachbarn in die Vergessenheit geschossen werden. Das Einzige, was dann bleibt… sind wir! Und was haben wir aus unserem Leben getan?… wird die Frage dann sein. Wir sind nicht hier, um die Menschen, die wir von Herzen lieben, mit selbst erzeugten Erdbeben unseres Egos hinzurichten und zu bestrafen, weil sie die Spiegel unserer Seele sind und die Fähigkeit besitzen, uns unsere dunkelsten Abgründe aufzuzeigen. Diese Menschen sind nicht da, um uns zu zerstören, sondern um uns wach zu rütteln, genau wie Mutter Erde, uns neu zu erschaffen, damit wir wieder zurück zur Liebe finden, damit wir zurück in unsere Menschlichkeit finden. 

Durch Liebe wird all der Schmerz sich wandeln, in Medizin. Medizin, die wir brauchen, um nach einer Katastrophe, all die Trümmer im Außen und im Innern unserer Welt aufzuräumen und aus den alten Steinen neue Brücken zu bauen, zu den Menschen, die unser Leben bereichern wollen. Neue Häuser zu bauen, in denen wir uns sicher fühlen können und geborgen. Eine neue grenzenlose Erde zu erkennen, auf der wir alle behütet sein dürfen, die uns nährt und liebt und sich mit uns gemeinsam bewegt und wächst zu Höherem hinaus…