Ein besonderes Kind
„Ein Kind bedeutet das Leben. Wenn ein Kind getötet wird, bedeutet das, dass auch das zukünftige Leben beendet ist. Es wird keine weiteren Kinder mehr geben. Wer ein Kind tötet, hat das Leben selbst, hat die Zukunft getötet.“
Das waren die Worte von Valentina, als wir an unserem ersten Tag mit Tränen in den Augen am Denkmal für alle getöteten Kinder des Krieges standen. 101 Kinder mussten bis jetzt sinnlos ihr Leben lassen, für einen Wahnsinn, den man nie verstehen kann.
Heute haben wir ein Zentrum in der Stadt besucht, in dem geistig und körperlich behinderte Kinder betreut werden. Wir haben Spielzeug für die Kinder überbracht, Kuscheltiere für jeden, Gesellschafts- und Brettspiele für alle. Eine wunderbare Frau, die Leiterin des Heims, kümmert sich mit großem Herzen um die Kinder. Das Zentrum ist eine Anlaufstelle für über 100 Familien. Die Eltern können mit ihren Kindern kommen und sich hier in der herzlichen, warmen Gemeinschaft aufhalten. Die Kinder werden gefördert. Es wird zusammen gebastelt und gesungen. Wir bestaunen die tollen Kunstwerke, die diese Kinder im Laufe der Jahre gestaltet haben. Momentan malen sie Bilder in den Farben des Herbstes.
Das Zentrum hat sich normalerweise über Spenden der reicheren Bürger der Stadt finanziert. Mit den Geldern konnte die Gruppe sogar einmal im Jahr einen Ausflug machen. Meist ging es ans Meer. Heute hat das Zentrum leider nicht mehr diese Möglichkeit. Die reichen Bürger von Donezk konnten es sich leisten zu Beginn des Krieges die Stadt zu verlassen und bis heute sind sie nicht zurückgekehrt. Das bedeutet jedoch auch, dass die finanzielle Unterstützung für das Heim weggefallen ist. Trotzdem kümmert sich die Heimleiterin und viele weitere Mitarbeiterinnen rührend um die Kinder und auch um die Eltern, die ihre Häuser im Krieg verloren haben.
Eine Mutter berichtet, sie habe drei Kinder. Zwei Mädchen und einen Jungen. Der Junge kann nicht laufen, er liegt den ganzen Tag im Bett, deshalb kann der Junge auch nicht in das Zentrum kommen. Doch sie kommt regelmäßig in das Zentrum mit ihren Mädchen, damit sie lernen und sehen, dass es noch weitere „besondere Kinder“ gibt, wie ihren Bruder zu Hause. Sie haben ein „besonderes Kind“, so sagt sie, kein behindertes Kind. Kaum vorstellbar, wie es gewesen sein muss, als der Beschuss in ihrer Nachbarschaft begonnen hat und die Familie mit zwei Kleinkindern und einem „besonderen Kind“, dass nicht laufen kann, fliehen mussten. Sie zeigt uns ein Foto von ihrem zerstörten Haus. Nun halfen die Mitarbeiter des Zentrums dieser Familie, eine neue Wohnung in der Stadt zu bekommen. Von niemandem haben sie sonst Unterstützung erhalten, nachdem sie alles verloren haben. Voller Stolz betrachtet die Mutter ihre Mädchen, als sie uns ein Lied vorsingen.
Auch andere Kinder haben etwas für uns vorbereitet. Ein Junge sagt ein Gedicht auf. Er hat heute Geburtstag, daher darf er sich als Erster ein Spielzeug aussuchen von den mitgebrachten Geschenken. Er wählt ein blaues Spielzeugauto. Zuvor hat er schon ein Stoffpony geschenkt bekommen. Das erste, was er tut ist, mit seinem „besonderen“ Bruder, der im Rollstuhl sitzt, seine Geschenke zu teilen. Er schenkt ihm das Stoffpony. Wir sind zutiefst bewegt von der wunderbaren und wichtigen Arbeit in diesem Zentrum. Es ist schon schwer genug, sich vorzustellen, wie die „besonderen Kinder“ auf die Schrecken von Kanonfeuer und Gratraketen reagieren müssen. Nun fallen auch noch die Spenden für dieses Zentrum weg. Wir wollen gern mit unserem Verein eine Kooperation eingehen und eine Verbindung zu deutschen Spender aufbauen.
Weitere besondere Kinder haben wir am Nachmittag kennengelernt. Wir sind in Außenbezirke von Donezk gefahren und haben kinderreiche Familien besucht, die in sehr ärmlichen Bedingungen leben und die unter den Folgen des Krieges noch mehr leiden. Kaum sind wir am ersten Haus angekommen, trifft uns der Schlag. Es ist eine Baracke, die Fenster zerschossen, sie leben regelrecht im Dreck. Kaum vorstellbar in einem Europa des 21. Jahrhunderts. Die drei Kinder der Familie berichten von ihren Träumen und von ihren Berufswünschen. Für das Mädchen scheint es schon ganz normal zu sein, dass in der Umgebung geschossen wird.
„Wenn die Beschüsse beginnen, legen wir uns in dieses Zimmer.“ Sie deutet auf den einzigen Raum, in dem die ganze Familie schläft. Sie haben keine Waschmaschine und keinen Kühlschrank. Die Lebensmittel lagern sie im Kühlschrank der Nachbarn. Der Putz bröckelt von den Wänden, Schränke und Schubladen sind kaputt und fallen fast aus den Angeln. Der Vater der Familie ist sichtlich schwer gezeichnet. Ein Geschoss hat sein ganzes Gesicht entstellt. Er hat am Flughafen von Donezk an der Front versucht, die Grenze zu verteidigen. Er sah sich gezwungen, seine Familie zu beschützen, sagt er, doch er wünscht sich eigentlich nur den Frieden für seine Kinder und friedliche Verhandlungen, damit der Krieg endlich enden kann.
Als wir weiter fahren, entdecken wir auf dem Weg, nur zwei Kilometer von der Baracke der Familie entfernt, einen großen Einschlag. Vor zwei Tagen hat es hier eine Explosion gegeben. Man rät uns schnell weiter zu fahren. Niemand weiß, wann weitere Raketen kommen könnten.
Wir besuchen zwei weitere Familien. Die Väter beider Familien sind seit über zwei Jahren als vermisst gemeldet. Die eine Mutter bekommt selbst nur ein kleines Gehalt von 2.500 Rubel. Das sind umgerechnet vielleicht 23 Euro im Monat. Sie hat ein Baby, welches seinen Vater noch nie gesehen hat und sie braucht Kinderkleidung und Hygieneartikel für ihr Kind. Die andere Mutter kann sich eine neue Brille für ihr Kind nicht leisten. Eine Brille kostet 2.000 Rubel. Sie verdient gerade mal 4.500 Rubel im Monat. Wir besorgen beiden Müttern die benötigten Dinge.
Es ist für uns nicht vorstellbar, wie Familien und alleinerziehende Mütter mit so wenig Geld überhaupt überleben können. Der Krieg fordert viele Opfer und wenn die Familienväter fallen oder vermisst werden, bleiben weitere Opfer zurück. Wir sind schockiert und können nur hoffen, dass diese Kinderaugen, in die wir heute geblickt haben, bald eine bessere Zukunft in Aussicht haben. Weil jedes Kind, ein besonderes Kind ist und nur das Beste verdient hat...