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Tag 1 – 06. Okt. 2016 – Donezk – Der vergessene Krieg

Das ist doch aber nicht mehr gefährlich da oder?“

Es herrscht doch jetzt Waffenstillstand...“

Na, dann viel Spaß in der Ukraine!“

Tatsächlich waren die Meinungen über unsere Reise in die Ostukraine sehr unterschiedlich. Natürlich wünschten uns auch viele alles Gute und wir sollten auf uns aufpassen. Trotzdem schien uns, dass in den meisten Köpfen der Menschen in Deutschland dieser Krieg um das Gebiet Donezk und Luhansk weitestgehend aus dem Bewusstsein gefallen ist. Wem soll man es verdenken... unsere Medien berichten kaum mehr über die Situation und wenn, dann werden keine Menschenschicksale vorgestellt. Wenn, dann wird von einer politisch ausgehandelten Waffenruhe gesprochen. Einer Waffenruhe, von der die Menschen hier in und um Donezk leider noch nichts mitbekommen haben.

Heute war unser erster Tag in Donezk. Wir wurden sehr herzlich empfangen von Valentina, einer beeindruckenden Frau, die sich seit Ausbruch der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Herz und Seele für die Bevölkerung einsetzt. Sie kümmert sich insbesondere um Familien mit geistig und körperlich behinderten Kindern. Valentina und eine große Gruppe weiterer Helfer haben uns willkommen geheißen. Gemeinsam mit einer Übersetzerin, Fotografen und Fahrern haben wir uns heute auf den Weg gemacht die „zwei“ unterschiedlichen Donezks kennen zu lernen.

Die Innenstadt: Eine beeindruckende Metropole. Weite Straßen, Hochhäuser, Parkanlagen. Donezk schien ganz und gar eine aufstrebende Stadt gewesen zu sein. Nun nach über zwei Jahren des Krieges kehrt langsam Leben zurück in die Großstadt. Trotzdem, die Tristesse bleibt. Über der Stadt liegt eine deutlich spürbare Melancholie. Wir besuchen das kleine Denkmal, welches mit Blumen gesäumt ist und auf dem Kuscheltiere verweilen. Es erinnert an alle Kinder, die in den letzten Jahren getötet wurden.

Obwohl die Infrastruktur weitestgehend funktioniert, die Menschen in der „beschussfreien Zone“ wohnen und der Alltag seinen Lauf nimmt, die aufstrebende Stadt der Vergangenheit ist geschwächt.

Die Reichen haben den Ort verlassen. Die Menschen werden in Armut zurückgelassen. Noch ist die Volksrepublik Donezk keine anerkannte Republik, soll dies laut Kiew auch nicht werden. Und doch zahlt die Regierung zum Beispiel keine Renten mehr an die Älteren, obwohl diese jahrzehntelang für die Ukraine gearbeitet haben. Sie könnten ja in den Westen gehen, dort würden sie Unterstützung erhalten. Aber ersten haben die Menschen hier kein Geld, um fort zu gehen. Zweitens ist es ihre Heimat, die sie nicht verlassen wollen. Ein Gebiet im Dämmerzustand zwischen vorläufiger Anerkennung und Vergessen.

Der Außenbezirk: Die Fratze des Krieges. Nur wenige Kilometer von der Innenstadt entfernt, wird deutlich, was dieser Krieg für die Bevölkerung tatsächlich bedeutet. Wir fahren durch zum Teil schon schwer zerstörte Wohngebiete. Die Häuser wurden beschossen, Fenster sind aus den Rahmen gefallen, überall Scherben und Trümmer und zwischendrin... Menschen!

Die Stadtbusse fahren seit zwei Tagen wieder. Mütter holen ihre Kinder aus dem Kindergarten ab. Ein Kilometer entfernt befindet sich die Kriegsfront! Unfassbar! Die Menschen leben hier in der „teilweisen Entfremdungszone“. Es ist ein Gebiet, welches täglich noch unter Beschuss steht. Ab 18 Uhr ist Sperrstunde. Keiner ist mehr auf der Straße und der Beschuss beginnt. Manchmal auch schon am Tage. Man weiß es nicht. Wir fahren weiter. Keine fünf Minuten entfernt beginnt die „Entfremdungszone“. Hier wohnen keine Menschen mehr. Die Häuser sind verlassen und auch nicht mehr bewohnbar. Alle Komplexe sind gespränkelt mit Schrabnellgeschossen, von oben bis unten. Zerstörte Balkone, Türen, mit Brettern verriegelte Fenster, ganze Häuser wurden weggebomt.

Es sind alles Wohnanlagen, Kinderspielplätze. Die ukrainische Armee hat seiner Zeit drei Gratraketenangriffe verübt. Ziele waren ein Krankenhaus, eine Schule und Kindergärten!! Wer soll das begreifen! Ganz bewusst wurden hier Einrichtungen bombadiert, um die Infrastruktur dieses Gebietes zu schwächen. Ein Mann zeigt uns seine alte Wohnung. Alle Fensterläden sind verriegelt. Die Heizkörper von Plünderern geklaut. Die Wände durchlöchert. Von drei Seiten kam der Beschuss und schlug ins Wohnzimmer ein, das Fenster explodierte, während er und seine Mutter im Flur auf dem Boden lagen. Die Menschen haben sich hier teilweise tagelang im Keller aufgehalten, aus Angst vor den Beschüssen. Auf einem Hausdach wird schon wieder gebaut. Die Menschen restaurieren die Wohnhäuser. Doch für wen? Keiner der ehemaligen Bewohner kann zu dieser Zeit zurückkehren in diese Geisterstadt, die immer noch keine Sicherheit bietet. Plötzlich hören wir von nicht weit entfernt Maschinengewehrsalven.

Schnell, einsteigen!“, ruft Valentina.

Wir steigen in die Autos und machen uns sofort auf den Rückweg.

Anschließend fahren wir noch durch ein anderes Gebiet. Auch hier zeigt sich das gleiche Bild. Zerstörung soweit das Auge reicht und alles Familienhäuser, Schulen... Und auch hier leben die Menschen weiterhin in den Ruinen ihrer Häuser. Vorwiegend sind ältere Menschen zu sehen. Ja, wo sollen sie hin. Sie sind zu alt, um ihre Heimat zu verlassen und habe erst recht nicht das Geld, sich eine andere Bleibe zu suchen. Wir lernen ein Ehepaar kennen. Sie zeigen uns ihr Haus oder besser gesagt das, was davon übrig geblieben ist. Dreimal wurden sie beschossen seit August 2014. Beim letzten Mal traf das Familienhaus eine Gratrakete, die das gesamte Haus vollkommen ausgebrannt hatte. Die Familie hat Jahrzehnte auf dieses Haus gespart. Nun ist alles zerstört, keine Erinnerung bleibt, bis auf das zerbrochene Geschirr, welches in den ausgebrannten Ruinen liegt. Sie waren gerade bei der Arbeit, als es passierte. Ihre zwei Kinder waren bei ihren Großeltern. Die Mutter berichtet, es mache sie traurig, dass sie ihren Kindern nun keine Fotos mehr zeigen könne, die an schönere Tage erinnern.

Auf unserem Rückweg sehen wir weitere ausgebrannte Häuser.

Sie brennen hier einfach nieder“, sagt Antonina unsere Übersetzerin.

Die Feuerwehr kommt nicht mehr hier her. Sie trauen sich nicht.“

Jeder hat hier entweder ein Familienmitglied, einen Freund oder Bekannten verloren. Es ist einfach unfassbar und gleich an unserem ersten Tag steigt das Unverständnis, die Trauer und die Wut über all das, was diesen Menschen hier passiert ist und immer noch passiert. Und über all dem hängt die zwingende Frage: Warum?

Warum werden Zivilisten angegriffen?

Warum spricht man in den deutschen Medien nicht von diesen Menschen, unseren Nachbarn?

Warum muss dieser Krieg überhaupt passieren, wenn die Bevölkerung beider Seiten doch einfach nur in Frieden leben will?

Familienvater zeigt das Geschoss, welches sein Haus zerstörte.

Freunde in der Entfremdungszone