Nachdem wir uns nun einige Tage ein Bild machen konnte, wie es in und um Donezk aussieht und wie es den Familien hier geht, haben wir heute den Bezirk und die Stadt Luhansk besucht. Die Bezirke Donezk und Luhansk stellen heute die Grenze zum ukrainischen Teil des Landes dar. Im Sommer 2014 haben hier an der westlichen Grenze der Bezirke und in den Städten selbst schwere Kämpfe stattgefunden. Wir fahren die 180 km von Donezk nach Luhanks und besuchen dabei Dörfer, die 2014 direkt an der Front lagen, bzw. die Front darstellten. In einem Dorf machen wir Halt. Die Zerstörung ist nicht zu beschreiben. So gut wie jedes Haus ist beschädigt, viele sind bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Die Schule des Dorfes ist vollkommen ausgebomt. Durch die zerbrochenen Fenster sehen wir, die Verwüstung. Alle Schulbücher liegen auf dem Boden, Möbel, Tische... alles ist zerstört.
An einigen Stellen im Dorf hat schon der Wiederaufbau begonnen. Die Menschen helfen sich hier gegenseitig aus, zum Beispiel mit Lebensmitteln. Viele Bürger aus den Städten spenden auch, damit die Häuser hier wieder aufgebaut werden können. Es gibt eine Hilfsorganisation der selbsternannten Bürgerwehr von Donezk, die diesen Wiederaufbau unterstützt.
Ein kleiner Zwischengedanke: In den westlichen Medien wurde immer von den prorussischen Rebellen gesprochen, die die Gebiete Luhansk und Donezk gewaltsam erobert haben und ein Regime des Terrors und der Angst geschaffen haben. Nun bauen diese sogenannten Terroristen die Häuser der alten Babuschkas in den Dörfern wieder auf. Da stellt sich doch Einem die Frage, wie kann das sein? Wieso baut diese Bürgerwehr, die vorher alles zerstört haben soll, nun diese Häuser wieder auf? Bürgerwehr bedeutet, es sind Bürger, die sich wehren. Warum sollten die Bürger dieser Region ihre eigenen Häuser und Schulen zerstören? Sind wirklich die „Rebellen“ oder die ukrainische Armee für die Brandschatzung und die Morde in den Dörfern verantwortlich?
Nun, die Bewohner des Dorfes haben es erlebt und sie erzählen, die ukrainische Armee sei in die Dörfer eingefallen. Die Menschen konnten entweder fliehen oder sie mussten sich in ihren Kellern verschanzen. Teilweise sind die ukrainischen Soldaten monatelang durch die Dörfer gezogen und haben die Häuser verwüstet. Sie haben auch Granaten in die Keller geworfen, in denen sich die Menschen versteckt haben. Ein Denkmal bei Luhansk erinnert an 18 hingerichtete Menschen. Es waren Bewohner eines Dorfes, die von den Soldaten in ihren Kellern aufgespürt und an dieser Stelle hingerichtet wurden. Ein Mann hat überlebt. Er hat beide Beine verloren, doch er hat von diesen Gräueltaten berichtet.
Nachdem die ukrainische Armee die Dörfer verlassen hat, sollen sie mit Panzern durch die Straßen gefahren sein und in jedes Haus hineingebomt haben, einfach um alles zu zerstören. Wir können auch nur Geschichten zusammentragen und davon berichten. Aber das, was wir sehen, sieht so aus...
Nun, es bleibt ein Rätsel woher die Informationen kommen, die in den westlichen Medien verbreitet werden und warum diese von der ukrainischen Armee immer wieder als „Befreier“ der Ostukraine sprechen. Das, was wir hier immer wieder von den Menschen hören ist, dass die ukrainische Armee in ihre Dörfer und Bezirke eingefallen ist und sie es waren, die Terror und Angst verbreitet haben. Von was noch hat die ukrainische Armee diese Menschen befreit, als von ihrer Heimat und ihrem Leben? Es scheint fast so, als sollte die ukrainische Armee dieses Gebiet von seinen eigenen Bewohnern befreien...
Die Babuschka Luda kommt vorbei, als wir zwischen den Ruinen des Dorfes stehen. Sie berichtet vor der Kamera von ihren Erlebnissen. Dabei ist das Trauma des Krieges immer noch so nah, dass sie oft weinen muss. Sie hat ihr Haus verloren und lebt in einem kleinen Verschlag ihrer Nachbarn. Wir besuchen sie. Es ist unglaublich, wie diese ältere Dame hier zurechtkommen kann. Es ist ein kleiner Bretterverschlag mit einem Ofen, die Decke kommt schon herunter. Wie soll diese Hütte einer Schneedecke standhalten, wenn der Winter bald kommt? Wir fragen, ob sie genug Essen hat. Babuschka Luda antwortet bescheiden, für sie reiche es, doch sie habe Nachbarn mit großen Familien, für die wäre es sehr knapp mit den Nahrungsmitteln.
Es sind meistens die Ärmsten, die nicht um Hilfe bitten und stattdessen noch anmerken, wir sollten doch lieber Anderen helfen. Wir geben ihr etwas Geld, damit sie endlich einmal wieder ihre Familie in Donezk besuchen kann, die sie schon seit zwei Jahren nicht gesehen hat. Sie ist erneut zu Tränen gerührt. Wir alle...! Wir fragen sie, was sie sich für die Zukunft wünscht. „Wir haben nur einen Wunsch. Wir brauchen nur Frieden!“, sagt sie.
Die 180 km nach Luhansk dauern verhältnismäßig lange. Wir fahren mit Schrittgeschwindigkeit auf holprigen Straßen mit meterbreiten Schlaglöchern. Die Straßen waren schon vor dem Krieg schlecht. Viele Felder liegen brach. Man erklärt uns, dass die Felder gefährlich sind. Es liegen Mienen dort. Einige Bauern sind schon umgekommen, als sie nach der Invasion wieder zurück in ihre Dörfer gekehrt sind und ihre Felder bestellen wollten. Wir passieren einen provisorischen Grenzübergang. Junge Männer mit MGs schlendern hin und her und winken uns durch.
„Nun fahren wir in ein anderes Land“, scherzt man im Auto.
Die Volksrepublik Luhansk. Es wirkt auf uns alles ein bisschen lächerlich. Hier auf der Straße haben sie eine Schranke aufgestellt, aber 10 Meter weiter liegen die Felder, über die man einfach spazieren könnte. Es ist, als wolle man hier ein bisschen Staat spielen. Ja, es ist ein Spiel. Wir philosophieren weiter. Vielleicht haben ja alle Regierungen und Staate einmal so begonnen. Es wird immer deutlicher, dass Politik generell ein Theater ist, egal wo auf diesem Planeten. Menschen rebellieren gegen Machthaber, nur um sich neue Grenzen zu setzten und sich neue Machthaber zu wählen. Schon seltsam... Warum ein neues Theaterstück inszenieren, wenn man das ganze Theater doch einfach verlassen könnte?
Dann erreichen wir Luhansk. In dieser Stadt wurde noch schwerer gekämpft als in Donezk und man sieht auch in der Innenstadt noch viel Zerstörung. Luhansk ist kleiner und nicht so weit entwickelt wie Donezk. Man könnte meinen, die Stadt sei nach dem Krieg Menschen verlassen, doch heute haben sich hier auf dem Marktplatz über 15.000 Leute versammelt, um zu demonstrieren. Die OSZE, eine unbewaffnete, internationale Einheit ist in diesen Gebieten der Ostukraine zur Beobachtung eingesetzt worden. Normalerweise soll die OSZE aufpassen, dass Verträge eingehalten werden, wie das Minsker Abkommen und dass die Waffenruhe eingehalten wird. Was das bedeutet, haben wir in Donezk schon selbst erleben können. Am Tage, wenn die OSZE durch die Straßen fährt ist es ruhig und in der Nacht hört man
Maschinengewehrsalven und Explosionen aus der Ferne. Jetzt soll es ein neues Abkommen erlauben, dass die OSZE bewaffnet wird. Das ist normalerweise verboten, da es sich nur um Beobachter handelt. Warum soll die OSZE nun bewaffnet werden?? Diese Frage haben sich auch die 15.000 Menschen in Luhansk gefragt, die nun hier auf der Straße stehen.
In Luhansk selbst besuchen wir verschiedene Familien. Es sind Menschen, die aus den westlichen Gebieten in die Ostukraine geflohen sind. Sie haben sich gezwungen gesehen, ihre Heimat zu verlassen, weil sie sich bedroht und politisch verfolgt gefühlt haben. Ein Mädchen berichtet, sie sei vor dem Krieg politisch aktiv gewesen und habe an Demonstrationen teilgenommen. 2014 wurde die Bedrohung in ihrer alten Heimat immer größer. Sie erzählt, man habe sie und ihre Familie in ihrer Wohnung besucht und bedroht, Möbel wurden zerstört und sogar ihre Katzen wurden getötet. Wir fragen, was das für Leute gewesen seien. Sie antwortet, es waren Mitglieder des sogenannten „Rechten Sektors“. Uns wird immer klarer, wie verhärtet die politischen Fronten auch zwischen den normalen Bürgern sind.
Natürlich können wir diese Aussagen nicht überprüfen und wir beziehen auch keine politische Position. Wir wollen einfach nur das wiedergeben, was die Menschen uns hier berichten, damit ihr euch ein eigenes Bild machen könnt. Wir persönlich sind der Meinung, dass keine politische Seite, die nichts anderes neben sich akzeptiert, zum Frieden führt. Der einzige Weg zum Frieden liegt im gegenseitigen Verständnis und darin, sich einander die Hände zu reichen.
Unser Hauptaugenmerk liegt darauf, Menschen in Armut zu helfen, daher besuchen wir am Nachmittag eine orthodoxe Kirche am Stadtrand. Hier kümmern sich zwei Priester und freiwillige Helfer um die wöchentliche Armenspeisung. Es ist ein wirklich schöner, harmonischer Ort. Die Kirche wurde erst 2012 aufgebaut und dabei handelt es sich lediglich um einen restaurierten, kleinen Bauwagen, der von Innen bunt und mit Ikonen, im klassischen Sinne der orthodoxen Kirche geschmückt wurde.
Die Armenküche selbst ist ein Bretterschuppen. Hier wird Sonntags nach der Messe gekocht. Es gibt Platz für 20 Menschen am Tisch, daher warten die Menschen in einer Reihe, werden nach und nach in 3er oder 4er Gruppen an den Tisch geführt und werden dann bewirtet. Zu Zeiten des Krieges kamen jeden Tag Menschen hierher und bekamen eine warme Mahlzeit. Das Grundstück verfügt über einen Brunnen. In Kriegszeiten kamen die Menschen an diesen Brunnen und konnten sich Wasser abschöpfen. Der Priester berichtet, umkämpft sei dieser Teil der Stadt nicht gewesen, aber sie haben die Explosionen nicht weit entfernt von hier beobachten können. Er zeigt uns Fotos auf seinem Handy von Raketen und Explosionen. Einmal, so berichtet er, habe man sogar in die Menschenschlange vor dem Brunnen geschossen.
Wir danken den Priestern für ihre so wichtige und aufopferungsvolle Arbeit. Dabei zucken sie gelassen mit den Schultern und lächeln. Wir spüren ihre herzliche Energie. Sie haben wohl, wie man es so nennt, Gottvertrauen. Zumindest sind es herzensgute Menschen, die sich um die arme Bevölkerung kümmern. Wir unterstützen ihre Arbeit mit einen Großeinkauf von etlichen Kanistern Öl, Zucker, Tee, Brei, Gemüse, Fleisch- und Fischkonserven, Waschmittel und vielem mehr. Sie lächeln weiter und nehmen die Geschenke ohne großen Aufhebens an. Wir spüren, diese Menschen nehmen das Leben selbst an. Sie klagen nicht, sie sind nicht überschwänglich. Sie ruhen einfach in sich selbst und nehmen die Situation, wie sie kommt. Ob nun Krieg herrscht oder nicht, ihre Aufgabe ist es, den Menschen in Not zu helfen.
Wir fühlen uns hier sehr wohl. Zum Schluss bekommen wir noch den eigenen, bescheidenen Gemüsegarten gezeigt. Sie besitzen ein paar Tiere, Hühner, Gänse und zwei Schweine. Es gibt eine Baustelle, auf der schon das Fundament für eine größere Kirche gelegt worden ist. Alle Mitglieder der Gemeinde helfen beim Bau mit. Der Priester erzählt, normalerweise hält er die Messe, aber seine Nebentätigkeit ist Bauarbeiter. Er macht alles selbst, weil sie sich keine Baufirma leisten können. Doch er erklärt, so entstehe Gemeinschaft. Alle Menschen helfen mit und geben ihren Beitrag, dieses schöne Zentrum der Hoffnung und des Friedens zu erschaffen. Eben durch diese Zusammenarbeit entsteht die Gemeinschaft und der Frieden. Mit diesen letzten Worten zum Abschied sprach der Priester uns aus der Seele. Genau das treibt uns auch immer wieder an und so machten wir uns mit einem Lächeln auf dem Gesicht auf den Heimweg nach Donezk.